Felix Wendler stellt richtig fest, dass Volksentscheide bei uns die Ausnahme sind. Genauer gesagt: Auf Bundesebene gibt es sie gar nicht, auf Landesebene so gut wie gar nicht. Ganze zweimal durften die Bremerinnen und Bremer bislang abstimmen. Was spricht dagegen, heiß diskutierte Themen wie etwa die Straßenbahnverlegung, die Abholzung der Platanen, oder, nach Pariser Vorbild, die Zulassung von Elektrorollern von der Bevölkerung entscheiden zu lassen? Selbst wenn sich an den Abstimmungen relativ wenig Leute beteiligen, so sind das doch noch immer wesentlich mehr als sonst im Parlament entscheiden, wo diese Themen auch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
Volksentscheide finden in Deutschland nur statt, wenn ein erhebliches Interesse in der Bevölkerung an dem Thema besteht. In Bremen müssen sich fünf Prozent aller Bürgerinnen und Bürger mit Adresse, Geburtsdatum und Unterschrift in Listen eintragen, um zu bestätigen, dass sie einen Volksentscheid wollen. Fünf Prozent, das entspricht dem, was eine Partei braucht um ins Parlament einzuziehen. Nur: Beim Volksentscheid sind es fünf Prozent der Wahlberechtigten, nicht der Wähler! Es entspricht also ungefähr acht Prozent der Wähler. Es ist keineswegs so, dass über alles mögliche abgestimmt werden kann, sondern nur wenn eine erhebliche Bereitschaft in der Bevölkerung zur Abstimmung festzustellen ist.
Warum ist die Beteiligung dann trotzdem manchmal gering? Beim Berliner Klimavolksentscheid fanden zwei Wahlen in relativ kurzem Abstand statt, und dann wenige Wochen nach der letzten Wahl der Volksentscheid. Er wäre besser auf den Wahltag gelegt worden. Außerdem sind Volksentscheide häufig nicht gültig, weil ein Beteiligungsquorum verfehlt wurde. Siehe Berlin. An einem anderen Volksentscheid in Berlin, „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, haben sich 73,5 Prozent beteiligt und die die große Mehrheit stimmte zu – er wurde aber nicht umgesetzt. So etwas entwertet den Volksentscheid in den Augen der Bürgerinnen und Bürger und senkt die Beteiligung bei künftigen Abstimmungen.
Die Schweizer Bürgerinnen und Bürger stimmen in einem durchschnittlichen Jahr an drei verschiedenen Tagen jeweils über etwa zehn Themen auf Bundes-, Kantonal- sowie Kommunalebene ab. Die Ergebnisse der Volksentscheide sind immer gültig, unabhängig von der Beteiligung. Die Regierungen halten sich an das Ergebnis des Volksentscheids. Manche Abstimmungen sind gesetzlich vorgeschrieben („obligatorisch“), aber nicht kontrovers. Die durchschnittliche Beteiligung beträgt daher nur 38 Prozent. Aber mehr als zwei Drittel der Schweizer nehmen mindestens einmal pro Legislatur an einer Abstimmung teil.
Dies seit über 100 Jahren praktizierte System hat dazu beigetragen, die Schweiz zu einem der reichsten Länder der Welt zu machen. Sicher muss man die Schweiz nicht in allem kopieren. Dreimal im Jahr abzustimmen, das wäre zu viel. Aber bei den durchschnittlich alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen die Bevölkerung auch über zwei oder drei Themen von öffentlichem Interesse im Volksentscheid abstimmen zu lassen, das sollte die Regel werden.
Dr. Paul Tiefenbach, Mehr Demokratie e.V., Autor des Buches „Alle Macht dem Volke? Warum Argumente gegen Volksentscheide meistens falsch sind“