Vorschläge zur Reform der Volksgesetzgebung (Mehr Demokratie, 2002)
1. Unterschriftenquoren beim Volksbegehren
Der Staatsgerichtshof betont in seinem Urteil die Notwendigkeit von Unterschriftenquoren. Er fährt dann fort: "Allerdings dürfen Zulassungsquoren für Volksbegehren nicht so hoch sein, daß sie einen Entmutigungseffekt haben und im Ergebnis die Inanspruchnahme dieses Instruments demokratischer Partizipation verhindern." Empirisch ist, wie gesagt, festzustellen, daß es in Bremen noch kein einziges erfolgreiches Volksbegehren gegeben hat, obwohl unstrittig das Interesse an der direkten Demokratie in den letzten Jahren gewachsen ist.
Wir schlagen deshalb vor, die bestehenden Unterschriftenhürden zu halbieren und den Zeitraum, die dem die notwendigen Unterschriften gesammelt werden müssen, von drei auf sechs Monate zu verlängern. Es wären dann für ein Volksbegehren über Änderungen der Landesverfassung die Unterschriften von zehn Prozent der Abstimmungsberechtigten (bisher: 20 Prozent) nötig, für einfachgesetzliche Volksbegehren fünf Prozent (bisher: 10 Prozent).
Eine solche bremische Regelung würde der von Schleswig Holstein (fünf Prozent in sechs Monaten) und Brandenburg (vier Prozent in vier Monaten) entsprechen. In München reichen für die Einleitung eines Bürgerbegehrens die Unterschriften von drei Prozent der Wahlberechtigten aus, die in unbegrenzter Zeit gesammelt werden können. In der Schweiz sind sogar bei verfassungsändernden Volksbegehren nur 2,2 Prozent in einer Frist von 18 Monaten erforderlich.
Es sei daran erinnert, daß es bei Volksbegehren nicht um eine Entscheidung geht, sondern nur darum festzustellen, ob eine relevante Zahl von Bürgern möchte, daß eine Frage Thema eines späteren Volksentscheids werden soll.
Es ist auch bei Senkung des Zulassungshürden nicht mit einer zu großen Zahl von Volksentscheiden zu rechnen, da auch die abgesenkten Hürden schwierig zu bewältigen sind. In Schleswig-Holstein gelang dies bisher in erst zwei Mal, in Brandenburg trotz mehrerer Anläufe noch nie.
2. Mehrheitserfordernisse beim Volksentscheid
Es gibt viele Beispiele dafür, daß Quoren den politischen Wettbewerb behindern, weil sie zur Diskussionsverweigerung, ja sogar zum Abstimmungsboykott führen können. Denn es reicht ja für die Gegner eines Volksbegehrens aus, die Beteiligung bei der Abstimmung niedrig zu halten, um im Endeffekt "zu gewinnen".
In Bremen gilt derzeit für Volksentscheide ein Zustimmungsquorum von 25 Prozent der Stimmberechtigten. Bei verfassungsändernden Abstimmungen liegt das Quorum sogar bei 50 Prozent. Ersteres ist in der Praxis kaum zu schaffen es sei denn, die Abstimmung wird mit einer Wahl zusammengelegt. Zweiteres muß als "Verhinderungsquorum" angesehen werden.
Es ist grundsätzlich davon auszugehen, daß die Beteiligung an Volksentscheiden geringer ist als bei Wahlen. Der Volksentscheid, bei dem lediglich über eine einzige Frage abgestimmt wird, hat weniger Gewicht, als eine Parlamentswahl, bei der die Regierungspolitik der vergangenen Jahre bilanziert und die der kommenden Jahre bestimmt wird.
So wären z.B. alle 11 bayerischen Volksentscheide an den bremischen Quoren gescheitert. Die Beteiligung lag zwischen 23,3 und 76 Prozent, die Zustimmung zwischen 20 und 49,5% Prozent der Stimmberechtigten.
Ein weiterer Nachteil von Quoren ist die Verfälschung des Abstimmungsergebnisses. Stimmenthaltungen werden nicht als solche gewertet, sondern den Nein-Stimmen zugeschlagen.
Schließlich läßt sich beobachten, daß Volksentscheide selbst bei vergleichsweise geringer Beteiligung eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung genießen. Ausschlaggebend für die Legitimation ist offensichtlich die Partizipationschance unabhängig davon, ob sie auch wahrgenommen wird.
Aus diesen Erwägungen halten wir es für sinnvoll, das Quorum für Volksentscheide zu streichen. Auch in Hessen, Bayern und Sachsen existiert kein Quorum bei Volksentscheiden über einfache, nicht verfassungsändernde Gesetze. In Kombination mit dem fünf Prozent Quorum beim Volksbegehren wäre eine solche Regelung auch mit dem Urteil des Staatsgerichtshofs vereinbar.
3. Erschwernisstufung für Verfassungsänderungen
Der Staatsgerichtshof hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Verfassung durch Volksbegehren und Volksentscheide nur unter erschwerten Bedingungen abänderbar sein darf.
Die erste Erschwernisstufung liegt nach unserem Vorschlag der Logik des geltenden Verfahrens folgend auf der Stufe des Volksbegehrens, wo wir ein Quorum von zehn Prozent vorschlagen (gegenüber fünf Prozent bei einfachgesetzlichen Volksbegehren).
Zusätzlich ist auch beim Volksentscheid eine weitere Erschwernisstufung vorzusehen. Dies hat der Staatsgerichtshof in seinem Urteil zwar nicht explizit formuliert, liegt aber aufgrund der von ihm formulierten Legitimationsanforderungen nahe.
Das bisherige Quorum von 50 Prozent ist prohibitiv. Es läßt sich selbst unter günstigen Bedingungen Koppelung mit einer Wahl, hohe Beteiligung plus hohe Zustimmung nicht erreichen.
In Hamburg beteiligten sich zum Beispiel 1998 an einem verfassungsändernden Volksentscheid 66,7 Prozent die höchste Beteiligung, die ein volksbegehrter Volksentscheid bisher erreichte. Dies entspricht in etwa der Beteiligung an der bremischen Bürgerschaftswahl 1999 (67,9 Prozent). Es stimmten 74 Prozent der Wähler für die Verfassungsänderung. Trotz dieses klaren Votums war der Entscheid ungültig, da das in Hamburg ebenso wie in Bremen geltende Quorum von 50 Prozent Zustimmung aller Wahlberechtigten nicht erreicht war. Eine solche Regelung wird in der Bevölkerung als undemokratisch empfunden und fördert Politikverdrossenheit.
Quoren eignen sich wegen der oben bereits genannten Nachteile nicht für die Erschwerung von Volksentscheiden sie sind vielmehr kontraproduktiv.
Es gibt aber auch Möglichkeiten der Erschwernisstufung jenseits von Quoren. In Anlehnung an das parlamentarische Verfahren der Verfassungsänderung ist vor allem die Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit der Abstimmenden zu nennen. Dieser Vorschlag ist praktikabel und sichert eine hinreichende Legitimation der Verfassungsänderung. Gleichzeitig verhindert er alle Gefahren, die das Quorum birgt.
Im Ergebnis wären also Volksentscheide über Verfassungsänderungen praktisch möglich (was heute nicht der Fall ist) und gegenüber einfachgesetzlichen Abstimmungen auf beiden Verfahrensstufen (Volksbegehren und Volksentscheid) deutlich erschwert.
Sollte sich für eine mögliche Reform des verfassungsändernden Volksentscheids lediglich für die Senkung des Zustimmungsquorums (z.B. Halbierung auf 25 Prozent, wie in Bayern) eine Mehrheit finden, wäre es dringend erforderlich, Volksentscheide über die Verfassung mit Wahlen zu koppeln, um so auch trotz Quorum erfolgreiche Abstimmungen überhaupt zu ermöglichen.
4. Gegenstand des Volksentscheids
Der Staatsgerichtshof die Grenzen des der Mitwirkung der Bürger in haushaltsrelevanten Fragen präzisiert. Demnach sind Volksentscheide dann unzulässig, wenn sie "das Gleichgewicht des gesamten Haushalts stören". Diese Formulierung könnte unmittelbar in die Verfassung aufgenommen werden und den unbestimmten Begriff "Haushaltsplan" (Art. 70, Abs. 2 LV) als Ausschlußgegenstand ersetzen. Dadurch würde sich der bisher extrem enge finanzielle Spielraum für Volksbegehren erweitern.
Alternativ wäre auch denkbar, Initiatoren eines Volksbegehrens zu einem Deckungsvorschlag für durch den Antrag entstehende Haushaltsbelastungen zu verpflichten. Dann könnte das Feld für haushaltswirksame Volksbegehren geöffnet werden, ohne daß die Frage der "Folgen" offen bliebe. Ausgeschlossen bleiben vom Volksentscheid sollte aber wie Mehr Demokratie schon in der Vergangenheit vorgeschlagen hat der "Haushaltsplan im ganzen".
Weiterhin können in Bremen bisher nur Gesetzentwürfe Gegenstand eines Volksentscheids sein. In Schleswig-Holstein und Brandenburg dagegen kann über alle Gegenstände der politischen Willensbildung abgestimmt werden. Diese Erweiterung des Gegenstandsbereiches bietet sich in Bremen gerade wegen der Vermischung von Landes- und Kommunalebene dringend an.
Auch im Parlament werden nicht nur Gesetze verabschiedet. Bei dem weitaus größten Teil der Parlamentsabstimmungen wird lediglich die Regierung zu einer bestimmten Handlung aufgefordert, ohne das dies mit einer Gesetzesänderung verbunden ist. Die für Bremen typische Vermischung von Landes- und Kommunalrecht bewirkt, daß die Landesregelungen für Volksentscheide zugleich Regelungen für die Stadt Bremen werden. Gerade auf kommunaler Ebene werden oft z.B. wichtige Investitionsentscheidungen getroffen, die nicht oder nur indirekt mit einer Gesetzesänderung zu tun haben (Beispiele: Bebauung des Bahnhofsvorplatzes, Spacepark usw.) Es muß die Möglichkeit bestehen, auch solche Fragen von allgemeinem öffentlichen Interesse zum Gegenstand eines Volksentscheids zu machen.
5. Einbindung des Parlaments
Volksentscheiden wird häufig vorgeworfen, sie reduzierten komplizierte Fragen auf einfache Ja-/Nein-Entscheidungen. Eine vernünftige Verfahrensgestaltung kann das Kompromiß- und Aushandelungspotential der direkten Demokratie deutlich erhöhen. So ist an die Vorschaltung einer Volksinitiative vor das Volksbegehren zu denken. Das Parlament kann sich so schon frühzeitig mit einem Vorschlag befassen und ggf. Kompromisse mit der Initiative aushandeln. Das dann dreistufige Verfahren Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid bietet mehr Raum für Debatten und führt zu einer "Rationalisierung" der Volksgesetzgebung.
Kommt es am Ende doch zum Volksentscheid, sollte die Bürgerschaft das Recht erhalten, eine Konkurrenzvorlage zum Volksbegehren mit zur Abstimmung vorzulegen. Die Bürger haben dann drei Alternativen: Erhalt des Status Quo, Volksbegehren oder Parlamentsvorlage.
6. Abstimmungsbroschüre
Es hat sich in der Schweiz und den USA bewährt, den Wahlberechtigten vor der Abstimmung ein Informationsheft zuzustellen, das die mit Begründungen versehenen Abstimmungsvorlagen enthält. Das Heft sollte vom Landeswahlleiter in Abstimmung mit den Initiatoren des Volksentscheids erstellt werden und Stellungnahmen der Bürgerschaft sowie der Initiatoren in gleicher Länge enthalten.
Diese Abstimmungsbroschüre weckt Interesse am Volksentscheid und eröffnet die Möglichkeit, sich knapp und ausgewogen zu informieren. Da ohnehin alle Wahlberechtigten vor dem Volksentscheid per Post eine Wahlbenachrichtigung erhalten, ist der finanzielle Mehraufwand für die Mitverschickung der Abstimmungsbroschüre begrenzt.
Übersicht Gesetzentwurf 2002