Finger weg vom Wahlrecht, Rot-Grün-Rot!

Die Landesregierung will das Bremer Wahlrecht „evaluieren“, also auf den Prüfstand stellen. Für uns klingt das wie eine Drohung. Und die ist verdammt schlecht begründet.

 

Foto [M]: Wikipedia / Quarz (CC0 1.0)

Seit 2011 gibt es in Bremen ein bürgerfreundliches Wahlrecht, erkämpft von den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Sie haben seitdem fünf Stimmen. Und mit denen können sie machen, was ihnen beliebt. Kumulieren und panaschieren. Sie können ihre Lieblingskandidatinnen und Lieblingskandidaten wählen. Oder einfach so abstimmen wie in den 1950er-Jahren und nur bei einer Parteiliste Kreuze vergeben. Ganz, wie sie wollen. Das behagt manchen in der Parteipolitik nicht.

Drei Probleme haben SPD, Grüne und Linkspartei ausgemacht, weswegen sie das Wahlrecht nun wieder „evaluieren“ wollen. So steht es im Koalitionsvertrag. Im Klartext: Sie wollen schauen, ob es etwas taugt – aus ihrer Sicht. Und es notfalls reformieren. Befürchtung eins: Das „komplizierte“ Wahlrecht halte einige von der Wahlteilnahme ab. Befürchtung zwei: Der „Wähler*innen-Wille in Bezug auf Personenstimmen und Listenstimmen“ werde nicht eingehalten. Befürchtung drei: Das Wahlrecht schade der angestrebten Geschlechterparität.

Wähler-Wille oder Partei-Wille?
Beginnen wir mit Befürchtung zwei. Es geht weniger um den Willen der Wählerinnen und Wähler. Es geht um den Willen der Parteien. Ihre Listen werden durcheinandergewirbelt durch das Personenwahlrecht. Die Parteien verlieren die Kontrolle: Menschen rutschen nach oben, andere Menschen werden verdrängt.

Im Ergebnis „rutschen“ Menschen ins Parlament, die nicht auf den vorderen Listenplätzen stehen, bei den Wählerinnen und Wählern aber offenbar populärer sind als in ihrer Partei. Dafür schaffen es andere, die von der Partei recht weit vorne positioniert wurden, nicht in die Bürgerschaft.

Das entspricht genau dem Willen der Wählerinnen und Wähler. Schließlich ist es das Ergebnis ihrer kollektiven Wahlentscheidung. Auch wenn es manchen Parteimenschen nicht passt.

Verschärft wird dieses Phänomen dadurch, dass vor allem die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten Stimmen ziehen. Und zwar weitaus mehr Stimmen, als sie für einen Platz benötigen. Stichwort: „Bovi-Effekt“. Aber auch die beiden linken Senatorinnen waren äußerst populär. Auf den darauffolgenden Plätzen folgen dann Menschen, die deswegen schnell mal überholt werden. Sie bekommen relativ wenig Personenstimmen, weil die meisten eher die Nummer eins als die Nummer zwei oder vier wählen.* Deswegen kann eine gut organisierte Nummer siebzehn schon einmal nach vorne preschen, indem sie sich eine hinreichende große Zahl an Personenstimmen in ihrer Community organisiert.

All das konterkariere auch die geschlechtsspezifische Quotierung der Partei-Listen, lautet ein weiterer Vorwurf. Insbesondere die SPD ist nicht amüsiert. So heißt es in einem aktuellen Beschluss der Partei : „Das ak­tu­el­le Ver­rech­nungs­sys­tem im Wahl­recht wer­tet die­se [Personen-]Stim­men ... gleich­zei­tig als Ab­leh­nung der von der Par­tei vor­ge­schla­ge­nen Lis­ten­rei­hen­fol­ge (und im Fal­le der SPD auch als Ab­leh­nung der ge­si­cher­ten Ge­schlech­ter­pa­ri­tät), was den meis­ten Wäh­ler:in­nen we­der be­kannt ist noch ih­ren Wäh­ler:in­nen­wil­len dar­stellt.

Kandidierende Frauen hätten demgemäß das Nachsehen, weil Männer nach vorne gewählt werden und bei der Mandats-Vergabe an ihnen vorüberziehen. In der Linkspartei, so ist zu hören, sollen so „reingerutschte“ Männer vom Landesvorstand aufgefordert worden sein, ihr Mandat niederzulegen. Nachgerückt wären dann Frauen. In der Linken-Fraktion sind tatsächlich nur drei von zehn Abgeordneten weiblich. Das ungünstige Verhältnis entstand, weil die Linke nur Frauen in den Senat entsandte – die dann ihr Bürgerschaftsmandat niederlegten. Ihnen folgten zwei Männer. Sonst stünde es fünf zu fünf.

Bei der SPD schaffte es vor ein paar Jahren die Gesundheitspolitikerin Stefanie Dehne nicht erneut in die Bürgerschaft. Die Partei soll fassungslos gewesen sein. Mit den von der SPD ausgemachten Problemen soll Schluss sein. Das Ziel: „eine entsprechende Reform rechtzeitig vor der kommenden Bürgerschaftswahl zu beschließen“. Also innerhalb der nächsten gut drei Jahre. So beschloss es die Partei Ende Januar 2024.

Ein SPD-Problem
Wohin soll die Reise gehen? Im Zweifelsfall in die Vergangenheit. Schon vor drei Jahren forderte die sozialdemokratische damalige Vize-Präsidentin der Bürgerschaft, Antje Grotheer, es müsse „sorgfältig geprüft werden, ob man zum Listenwahlsystem zurückgehen muss“.

Zu den Fakten: In der Bremischen Bürgerschaft schwankt der Frauenanteil seit vielen Jahren um die 40 Prozent. Damit steht Bremen vergleichsweise gut da. Trotz und mit dem Mehrstimmen-Wahlrecht. Leider sind die meisten Bundesländer noch schlechter aufgestellt als Bremen. Auch dann, wenn man dort nicht kumulieren und panaschieren darf. Genau genommen steht nur Hamburg besser da – mit einem Wahlrecht, das dem bremischen Wahlrecht sehr ähnlich ist.

Ja, die Wählerinnen und Wähler wirbeln die Bremer Partei-Listen durcheinander. Doch schadet das den kandidierenden Frauen? Blicken wir auf die ursprünglich gewählten Abgeordneten – vor Abgängen und Fraktionswechseln. Bei den Grünen sind drei von drei über die Personenstimmenplätze gewählten Abgeordneten Frauen. Bei der Linken immerhin drei von sechs. Was einem Anteil von 100 respektive 50 Prozent entspricht. Bei der CDU liegt dieser Anteil bei 40 Prozent, für CDU-Verhältnisse also ziemlich hoch. Auf den Listenplätzen ist er allerdings noch höher. Bei Bündnis Deutschland (BD) und FDP wurden null Frauen über die Personenstimmen gewählt, hier waren aber auch deutlich weniger Frauen überhaupt aufgestellt. Rechnen wir die SPD heraus, lag der Frauenanteil auf den Listenplätzen unterm Strich bei 43,2 Prozent, bei den Personenstimmenplätzen bei 43,4 Prozent, also fast gleich.

Wir haben es vor allem mit einem Problem zu tun, das die SPD betrifft. Hier liegt der Frauenanteil der durch Personenstimmen gewählten Personen bei gut einem Viertel, auf den Listenplätzen hingegen bei zwei Dritteln. Und von den sieben Personen, die rein über die Personenwahl gewählt wurden, waren sechs Männer. Hier war der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund sehr hoch. Heißt: Die SPD-Wählerinnen und SPD-Wähler haben gewissermaßen den Migrantenanteil der SPD-Fraktion auf Kosten der Frauenquote saniert. Trotz der beschriebenen Effekte liegt der Frauenanteil in der SPD-Fraktion bei knapp 41 Prozent.

Schaden Kumulieren und Panaschieren also der Gleichberechtigung? Jedenfalls bei der Wahl 2023 hatten Frauen etwas das Nachsehen. 2019 hingegen rutschten acht Frauen auf ihren Listen nach hinten, aber neun nach vorne. Heißt: Die Wählerinnen und Wähler wählten seinerzeit sogar frauenfreundlicher als von den Parteien vorgesehen. Gleichwohl, es bleibt ein Zielkonflikt, denn ein bestimmter Frauenanteil kann bei offenen Listen nicht garantiert werden.

Wir sollten uns stattdessen fragen, was wir tun können, um beides zu erreichen, einen hohen Frauenanteil und Auswahl bei der Wahl. Wie also könnte die SPD ihr Ziel erreichen, eine Fraktion mit einem höheren Frauenanteil zu erreichen – ohne die Axt ans Wahlrecht zu legen? Sie könnte beispielsweise mehr Frauen als Männer auf den vorderen (sicheren) Plätzen aufstellen. Sie könnte insgesamt mehr Frauen als Männer aufstellen. Und sie könnte gezielt Wahlkampf-Aktionen für die kandidierenden Frauen organisieren.

Den Frauenanteil in der Bürgerschaft ziehen auch BD und FDP nach unten. Das ist jedoch keine Folge von Kumulieren und Panaschieren. Sie stellten zuletzt viel mehr Männer auf. Daran kann eine Reform des Wahlrechts nichts ändern – es bräuchte einen grundlegenden Sinneswandel.

Wahlrecht und Wahlbeteiligung
Es ist natürlich gut, wenn die Regierungsfraktionen eine höhere Wahlbeteiligung anstreben. Doch Rot-Grün-Rot behauptet: Die Menschen werden durch das Wahlrecht vom Wählen abgeschreckt. Dieser Vorwurf ist aus unserer Sicht nicht haltbar.

Blicken wir auf die Zahlen: Die Wahlbeteiligung sinkt seit 1987. Das neue Wahlrecht kam erstmals bei der Bürgerschaftswahl 2011 zum Zuge. 2011 sank die Wahlbeteiligung gegenüber dem Vorjahr nur geringfügig, 2015 dann auf ein historisch tiefes Niveau. Manchmal steigt sie auch: 2019 beispielsweise um fast 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Erkennen Sie den gesetzmäßigen Zusammenhang mit dem neuen Wahlrecht? Nicht? Kein Wunder: Er existiert nicht. Es ist alles etwas komplizierter.

2019 beispielsweise war die Wahlbeteiligung so hoch, weil die CDU einen für viele attraktiven Spitzenkandidaten hatte, es kam zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Außerdem fand parallell die Europawahl statt. All das war 2023 nicht der Fall – die Wahlbeteiligung sank wieder ab. Das alles hat mit dem Wahlrecht wenig zu tun.

Dass alles etwas komplizierter ist, zeigt auch der Vergleich mit anderen Bundesländern: Das Land Hamburg besitzt ein Wahlrecht, das mit dem bremischen weitestgehend identisch ist, an manchen Stellen aber noch mal deutlich komplizierter. Ist die Wahlbeteiligung in Hamburg also niedriger? Nach der Formel: „Kompliziertes Wahlrecht führt zu niedriger Wahlbeteiligung“ müsste das der Fall sein.

So ist es aber nicht: In Hamburg liegt die Wahlbeteiligung bei 63 Prozent und damit deutlich höher als in Bremen. Nordrhein-Westfalen hingegen hat ein weniger kompliziertes Wahlrecht als Bremen. Doch die Wahlbeteiligung ist dort niedriger. Es scheinen andere Faktoren deutlich mehr Einfluss zu haben auf die Beteiligung an Wahlen.

Verwirrend? Zwei Studien zum Thema
Nach der historisch schlechten Wahlbeteiligung bei der Bürgerschaftswahl 2015 beschäftigten sich zwei Studien mit der Frage, ob das relativ neue Wahlrecht eine unrühmliche Rolle spiele.

Als ein Grund für die abnehmende und sozial selektive Wahlbeteiligung werde häufig auch das seit 2011 geltende Bremer Wahlrecht genannt. Denn aufgrund seiner gestiegenen Komplexität erschwere es vor allem älteren und bildungsferneren Menschen die Wahlteilnahme: So konnten wir es in der von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichten Studie „Prekäre Wahlen – Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bremischen Bürgerschaftswahl 2015“ nachlesen.

Komplexität verhindert Wahlteilnahme: Stimmt das? Die Studie kommt zu einem anderen Ergebnis: „Das neue Wahlrecht ist nicht die Hauptursache der sinkenden und sozial ungleichen Wahlbeteiligung – die liegt auch in Bremen vor allem in der zunehmenden sozialen Spaltung und Segregation der Bevölkerung.“

Die Bertelsmann-Stiftung macht also soziale Ungleichheit als Ursache aus. Die Studie erkennt allerdings ein anderes Problem, das nicht beschwiegen werden soll: Nach der Wahlrechts-Reform waren mehr Wahlzettel in sozial schwachen Gegenden ungültig. Dieser Effekt könne jedoch mit Wahlhilfen abgeschwächt werden, betont die Studie. Rot-Grün-Rot denkt nun über eine „Heilungsregelung für versehentlich ungültige Stimmzettel“ nach. Gut so!

Zur zweiten Studie: Prof. Dr. Lothar Probst und Dr. Valentin Schröder sind keine Fans des Bremer Wahlrechts. Das macht schon der Titel ihrer Studie deutlich: „Das Bremer Wahlsystem: Intransparent, paradox und möglicherweise verfassungswidrig“. Doch auch die beiden heimischen Wissenschaftler kommen zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Bertelsmann-Stiftung.

Mit Blick auf die seit Langem sinkende Wahlbeteiligung stellen Probst und Schröder fest: „Der stetige Rückgang der Wahlbeteiligung lässt sich ... nicht kausal auf das Wahlsystem zurückführen.“ Auch in den einzelnen Stadtteilen erkennen sie „keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Wahlsystem und der sinkenden Wahlbeteiligung“.

Ihr Fazit: „Man sollte … mit zu schnellen Rückschlüssen vorsichtig sein und Gründe für die sinkende Wahlbeteiligung nicht in erster Linie im Wahlsystem suchen.“ Soweit die beiden grundsätzlichen Kritiker des Bremer Wahlrechts.

Fazit: Eine Wahlreform löst keine Probleme, schafft aber neue!
SPD, Grüne und Linke wollen den Frauenanteil im Parlament und die Wahlbeteiligung steigern. Beides mag wünschenswert sein. Doch das Wahlrecht ist nicht die Quelle der Probleme. Das Wahlrecht ist nicht in Stein gemeißekt. In welchen Fällen kann eine ungültige Stimmabgabe geheilt werden? Kann der Bovi-Effekt abgemildert werden, ohne den Kern des Wahlrechts anzutasten? Das Prinzip Kumulieren und Panaschieren sollte nicht in Frage gestellt werden.

Zur Erinnerung: Das Personen-Wahlrecht wurde von unten erkämpft, mit einem erfolgreichen Volksbegehren. Nimmt Rot-Grün-Rot dieses Wahlrecht zurück, wird dies die Wahlbeteiligung kaum steigern – wohl aber die Politikverdrossenheit. Und es ist unwahrscheinlich, dass die Menschen dies klaglos hinnähmen.

*Durch diesen Effekt wird – am stärksten zu beobachten bei der SPD – das Personenstimmen-Kontingent höher, das heißt, es ziehen deutlich mehr Personen über Personenstimmen und weniger über Listenstimmen ins Parlament.

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