Bürgerentscheid: Experte Schumacher kritisiert Mangel an direkt-demokratischer Kultur

[6/23] Der in Neustadt am Rübenberge anstehende Bürgerentscheid offenbart wie unter einem Brennglas unseren Mangel an direkt-demokratischer Kultur

In Neustadt am Rübenberge findet am 12. November der zweite Bürgerentscheid in der Geschichte des Ortes statt. Abgestimmt wird über den Schulstandort der Grundschule. Der Rat hatte beschlossen, die neue Grundschule am Standort Helstorf zu errichten. Dagegen richtete sich ein Bürgerbegehren.

Der nun anstehende Bürgerentscheid zum Schulstandort offenbart wie unter einem Brennglas unseren Mangel an direkt-demokratischer Kultur, ärgert sich Dirk Schumacher, niedersächsischer Sprecher des Fachverbands Mehr Demokratie e.V. „Die Abstimmungsbenachrichtigung verwirrt mehr als dass sie informiert, der Boykott-Aufruf ist schlicht undemokratisch und wie so oft wurde kein Abstimmungsheft versandt“, so der Bürgerbegehrens-Experte.

Abstimmungsbenachrichtigung „grob mangelhaft“
„Benachrichtigung zum Bürgerentscheid gegen den Ratsbeschluss vom 14.10.2021 am Sonntag, den 12.11.2023 von 08.00 bis 18.00 Uhr“: So ist die Abstimmungsbenachrichtigung überschrieben, die an alle stimmberechtigten Menschen der Stadt Neustadt am Rübenberge ging. Die gelbe Postkarte lieferte Bürgerinnen und Bürger zwar viele Informationen: Zum Beispiel der, dass man den Antrag auf Briefabstimmung nicht per SMS stellen kann. Schumacher: „Nur eines verrät die Postkarte nicht: Worum geht es eigentlich?“ Am 14.10.2021 gab es zudem mehrere Ratsbeschlüsse. Einer drehte sich um geschenkte Luftreiniger und die daraus resultierenden Folgekosten. „Die Benachrichtigung ist krass mangelhaft.“ Schumacher fordert eine klare gesetzliche Regelung. „Die bisherigen Vorschriften sind arg schwammig. Man sieht in Neustadt, wohin das führt.“ Es gebe im Gegensatz zu Kommunalwahlen keine klaren Regeln, wie eine Abstimmungsbenachrichtigung für einen Bürgerentscheid auszusehen hat, so Schumacher.

Boykottaufruf ist undemokratisch
Schumacher nimmt auch den in Neustadt kursierenden Boykottaufruf aufs Korn. Gegner des Schulstandortes Mandelsloh riefen in ihren Publikationen dazu mit Nein zu stimmen oder gleich zuhause zu bleiben. „Das geht gerade in diesen Zeiten nicht“, erklärt Dirk Schumacher mit Blick auf das „Nein-Lager“.

Hier gibt es die seltene Chance, über eine Sachfrage selbst zu entscheiden. Diese Chance sollten die Bürgerinnen und Bürger nutzen“. Demokratie lebt vom Mitmachen, nicht vom auf dem Sofa-Sitzen. Bürgerbegehren ändern laut Schumacher durchaus etwas: „Ein Bürgerentscheid hat die selbe rechtliche Wirkung wie ein Stadtratsbeschluss. Was die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich beschließen, wird dann auch umgesetzt. Ob es der Politik schmeckt oder nicht.“

Abstimmungsheft: Kostet wenig, hülfe viel
Wie bei so vielen Bürgerentscheiden in Niedersachsen, wurde auch in Neustadt kein Abstimmungsheft an die Bürgerinnen und Bürger verschickt. „Ein Abstimmungsheft fasst die wichtigsten Pro- und Contra-Argumente zusammen. Alle wichtigen Akteure kommen zu Wort. Die Menschen können sich dann ein fundiertes Urteil bilden“, so Schumacher. Ein Abstimmungsheft koste pro Bürger weniger als ein belegtes Brötchen. „Fehlentscheidungen sind meist teurer“, weiß Schumacher. Ein gutes Abstimmungsheft sei keine Raketenwissenschaft. Vorbildlich findet Schumacher ein Abstimmungsheft der Stadt Lüneburg. Abrufbar ist sie hier.

„Die Broschüre ist ansprechend gestaltet, sie enthält die Position der Initiatoren des Bürgerbegehrens, der Verwaltung und aller im Stadtrat vertretenen Parteien. Sie nimmt eine neutrale, aber demokratiefreundliche Haltung ein, weil sie die Bürgerinnen und Bürger auffordert, an der Abstimmung teilzunehmen. Und sie wurde an alle Abstimmungsberechtigten verschickt“, so Schumacher. Am Besten sollte ein Abstimmungsheft auch online abrufbar sein – um alle Generationen zu erreichen.

Der nächste Bürgerentscheid kann nur besser werden!
Schumacher ist sich sicher, dass man beim nächsten Bürgerentscheid in Neustadt Lehren ziehen wird. „Wir unterstellen ausdrücklich keinen bösen Willen. Wir wissen: Es ist erst der zweite Bürgerentscheid vor Ort. Und wir gehen davon aus, dass Politik und Verwaltung lernfähig sind“, so Schumacher. Der Weg zu einer guten direkt-demokratischen Kultur sei noch lang hier bei uns im Nordwesten. „Unsere bayrischen und schweizerischen Miteuropäer sind weiter als wir. Dort stimmen die Bürgerinnen und Bürger aber auch viel häufiger ab als wir. Irgendwann wird die direkte Demokratie von allen routiniert gehandhabt.“