Der Fachverband Mehr Demokratie zeigt sich besorgt, weil die Göttinger Stadtspitze Plakatwerbung für den doppelten Rad-Bürgerentscheid am 9. Juni nicht zulässt. „Die Stadt sieht einen fundamentalen Unterschied zwischen Partei-Werbung und dem Werben für politische Inhalte. Lächelnde Politikerinnen und Politiker sind okay, Argumente für oder gegen die Bürgerentscheide aber nicht“, wundert sich Dirk Schumacher, niedersächsischer Landessprecher des Demokratie-Vereins.
Die Stadtspitze bediene sich dabei einer doppelten Argumentation: Erstens sei Plakatwerbung nur in den vorgesehenen Rahmen möglich. Die Rahmen sind im Rahmen eines Konzessionsvertrages vermietet. Und der Mieter lässt nur Veranstaltungswerbung zu. „Das Argument verfängt nicht. In vielen Städten Deutschlands hängen Wahlkampfplakate einfach so an Laternen. Auch in Göttingen würde das mutmaßlich funktionieren“, so Schumacher.
Zweitens darf es keine Werbung für ein Nein oder Ja zu den Bürgerntscheiden auf den 100 städtischen Stellwänden geben. Denn diese sind den europawahlkämpfenden Parteien vorbehalten. Die Europawahl habe Vorrang vor kommunalen Themen, argumentiert die Stadtspitze. „Ob das auch gelten würde, wenn Europa- und Kommunalwahl am selben Tag zusammenfielen?“, fragt sich Schumacher. Er kann sich schwer vorstellen, dass die Stadtspitze dann Parteiwerbung zur Europawahl erlauben, Parteiwerbung zur Kommunalwahl indes unterbinden würde.
Schumacher: „Machtvoll drängt sich der Verdacht auf, dass die Stadtspitze die Debatte über die beiden Bürgerentscheide aus dem öffentlichen Raum drängen will. Dabei lebt Demokratie doch vom offenen Austausch der Argumente. Jedenfalls außerhalb von Göttingen.“ Schumacher erkennt ein Muster: Erst gab es die fragwürdige Kostenschätzung, nun das Plakatierverbot. „Beides ist nicht lauter“, so Schumacher.
Der Fall ist ziemlich einmalig in Niedersachsen, sagt Schumacher, der das direkt-demokratische Geschehen im Nordwesten seit langem systematisch beobachtet und auswertet. Eigentlich sei eine Plakatierung vor Bürgerentscheiden auch in Niedersachsen üblich. „In Göttingen findet ein massiver Eingriff in die Meinungsfreiheit statt. Die Stadt sollte eine Plakatierung zum Bürgerbegehren auf den zentralen Stellwänden ermöglichen. Notfalls müssen halt weitere Stellwände aufgestellt werden“, fordert Schumacher.
Er verweist auf das Beispiel Osnabrück, wo 2019 ein Bürgerentscheid parallel zur Europawahl stattfand. Die Parteien durften Plakate aufhängen und bekamen auch einen Teil der großen Stellwände zugewiesen, auch wenn die Parteien Vorrang hatten.
Auch beim jüngsten Bürgerentscheid in Goslar im April wurde im öffentlichen Raum für das Anliegen des Bürgerbegehrens geworben. Darüber hinaus haben viele Kommunen, darunter die Landkreise Aurich und Northeim und die Gemeinde Seevetal eine Passage in der kommunalen Satzung, derzufolge für Lautsprecher- oder Plakatwerbung die Regelungen gelten, die für die Wahl der kommunalen Vertretungen gelten. Für Schumacher ist aber klar, dass dies nicht im Ermessensspielraum einer Stadtspitze liegen dürfe. Er mahnt eine gesetzliche Klarstellung auf Landesebene an: „Klare Regeln verhindern Willkür!“
Sogenannte Radentscheide, also Bürgerbegehren, die die Bedingungen das Radfahrens in einer Stadt verbessern wollen, gibt es recht viele. Meist öffnen sie den Weg zu Verhandlungen mit der Kommunalpolitik, die in einem für alle tragbaren Kompromiss münden. Göttingen ist eine der wenigen Ausnahmen: Bisher gab es erst einen einzigen einschlägigen Bürgerentscheid. In Göttingen werden es nun gleich zwei auf einmal sein.