Absicht oder Ungeschick? Der Radentscheid im Rückspiegel

Der Stadt Göttingen ist es endlich gelungen, alle Stimmen des zweifachen Bürgerentscheids vom vergangenen Wochenende auszuzählen. Wir blicken zurück auf das direkt-demokratische Verfahren, das in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert war.

 

Lange dauerte es, doch jetzt sind die Stimmen ausgezählt: Das Bürgerbegehren „Allgemeine Strategien“ erhielt die Zustimmung von 54,4 Prozent der Abstimmenden, das Bürgerbegehren „Radverkehrsanlagen in der Kernstadt“ erhielt nur die Zustimmung von 46,1 Prozent und ist damit abgelehnt. Die Beteiligung lag bei beiden bei sehr guten 56 Prozent. Diese überdurchschnittliche Beteiligung dürfte vor allem auf die Parallelität zur Wahl zurückzuführen sein. Die Bürgerentscheide hätten bundesweit Strahlkraft entwickeln können, befand der Spiegel. Wäre da nicht der „Zoff“ gewesen. Wir blicken auf das bemerkenswerte direkt-demokratische Verfahren zurück.

  1. Ein Bürgerentscheid wurde angenommen, einer abgelehnt: Das zeigt, dass auch die direkte Demokratie zu differenzierten und ausgewogenen Entschlüssen fähig ist. Sie ist eben kein tumbes Instrument, wie einige der Kritikerinnen und Kritiker der direkten Demokratie vorwerfen. Konkret nahmen die Menschen die Grundsatzbeschlüsse an, lehnten die konkreteren Forderungen aber mit knapper Mehrheit ab. 
     
  2. Das Verfahren war an vielen Stellen holprig: Die Initiative durfte nicht plakatieren, die Argumentation der Stadt überzeugte nicht (siehe: „Massiver Eingriff in die Meinungsfreiheit“). Es dauerte deutlich länger als üblich, bis das Ergebnis vorlag. Die Informationspolitik der Stadtspitze bewerten wir als eher einseitig. Erst am Dienstag gab es das Ergebnis. Und es gab einen Fehler bei der Kostenschätzung. Man kann darüber streiten, ob dieser wenig bürgerfreundliche Ablauf Absicht oder Ungeschick war. Jedenfalls hätte man all das gewiss besser organisieren können. Dass das geht, zeigen Bürgerentscheide in anderen niedersächsischen Kommunen.
     
  3. Fraglich ist, ob der abgelehnte Bürgerentscheid nicht doch erfolgreich gewesen wäre ohne die Fehlkalkulation der Verwaltung. Ein Zusammenhang zwischen überhöht kalkulierten Kosten und der mehrheitlichen Ablehnung ist jedenfalls nicht unplausibel. Wenn Kosten und Nutzen in keinem guten Verhältnis erscheinen, ist ein Nein naheliegend.
     
  4. Wie leider üblich, gab es vor den Bürgerentscheiden kein Abstimmungsheft. Ein gutes Abstimmungsheft enthält in angemessener Länge die wichtigsten Argumente des Pro- und des Contra-Lagers plus eine Einschätzung seitens der Verwaltung. Zwei 1000-Zeichen-Texte auf der städtischen Webseite können ein Abstimmungsheft nicht ersetzen. Abstimmungshefte sollten an alle Bürgerinnen und Bürger verschickt werden. Das sollte  verpflichtend sein – diese Pflicht zu etablieren wäre Aufgabe der Landespolitik. Es gab aber auch schon Kommunen, die das freiwillig gemacht haben.
     
  5. Erstmals gab es in einer niedersächsischen Kommune zwei Bürgerentscheide an einem Tag. Es waren die Bürgerentscheide vier und fünf in einer niedersächsischen Großstadt. Die direkte Demokratie findet bei uns zu 97 Prozent in kleinen und mittleren Gemeinden statt. Insgesamt waren es die Bürgerentscheide Nr. 148 und 149 in Niedersachsen.
     
  6. Es war bundesweit erst das zweite Mal, dass eine Radentscheids-Initiative einen Bürgerentscheid auslöste. Viele diese Initiativen sind im Vorfeld erfolgreich: In der Regel reicht der Druck durch die Unterschriftensammlung aus, damit es zu einer Kompromisslösung mit der Lokalpolitik kommt. Diese Bürgerbegehren mündeten also in aller Regel nicht in einen Bürgerentscheid. In Osnabrück setzte im letzten Jahr eine Radentscheid-Initiative ihre Forderungen auf diesem Weg weitestgehend durch. Gleiches passierte in Lüneburg.
     
  7. Laut Webseite der Stadt sieht auch Oberbürgermeisterin Petra Broistedt „Regelungslücken im Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz (NKomVG) in Hinblick auf Bürgerentscheide“. Hört, hört! Wir werden mit ihr das Gespräch suchen.

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