12.03.2010

Niedersachsen: Der Traum von der alten Unabhängigkeit

 

Von: Sagi Gal

Neugliederung des Bundesgebiets nach Artikel 29 GG

Bekanntlich ist die Bundesrepublik Deutschland ein föderaler Bundesstaat, d. h. er ist in Länder gegliedert. Es ist nicht zwingend, die Bundesrepublik in sechzehn Bundesländer zu gliedern. Die Gebiete der Länder können laut Grundgesetz geändert werden, es können neue entstehen oder bestehende Länder zusammengelegt werden. 1949 enthielt das Grundgesetz sogar eine Verpflichtung, die Grenzen der nach 1945 neugeschaffenen Länder zu überprüfen (Das Gesetz wurde später verändert). Dies kann mittels Volksbegehren geschehen.

Die niedersächsischen Volksbegehren in den 1950ern

Dieses Instrument wurde genutzt: Insgesamt sieben Volksbegehren fanden im Frühling 1956 statt - zwei davon im Bundesland Niedersachsen: In Oldenburg und in Schaumburg-Lippe zielten diese auf die Wiederherstellung der Selbstständigkeit ab, die in beiden Ländern eine lange Tradition hatte (Schaumburg-Lippe war seit 1647, Oldenburg sogar seit dem Mittelalter ein selbstständiges Land). Mit der Errichtung der britischen Militärregierung und der Bildung Niedersachsens 1946 wurde die Selbstständigkeit beendet. Die beiden Volksbegehren wollten dies rückgängig machen.

In Oldenburg unterstützten 12,9% und in Schaumburg-Lippe 15,1% der Wahlberechtigen die Volksbegehren. Da in beiden Fällen die 10-Prozent-Hürde übersprungen wurde, kam es gemäß dem dritten Absatz des Artikels 29 zu einem Volksentscheid, in dem über die zukünftige Gliederung des Bundeslandes entschieden werden soll. Doch die Bundesregierung versuchte die Neugliederung des Bundesgebietes – neben den beiden erfolgreichen Volksbegehren in Niedersachsen konnten drei weitere in Rheinland-Pfalz die 10-Prozent-Hürde überspringen – immer wieder hinaus zu zögern, sodass eine Weile verging, bis die Volksentscheide tatsächlich durchgeführt wurden. Erst am 19. Januar 1975 – also knapp 20 Jahre nach den erfolgreichen Volksbegehren – war es so weit.

Die Volksentscheide 1975...

Die Ergebnisse der beiden niedersächsischen Volksentscheide sorgten für eine große Überraschung. In Schaumburg-Lippe sprachen sich 78,3%, in Oldenburg gar 80,9% der an der Abstimmung beteiligten Wahlberechtigen für die Wiederherstellung der Selbstständigkeit aus (die Beteiligung lag knapp bei 50% in Schaumburg-Lippe und bei 39% in Oldenburg).

...und warum sie nie von der Bundesregierung umgesetzt wurden

Trotz dieser überwältigenden Zustimmung wurde die Selbstständigkeit von Oldenburg und Schaumburg-Lippe nie wiederhergestellt. Dass sich die Bundesregierung über die Entscheidung des Volkes hinwegsetzte, war zu dem Zeitpunkt jedoch nicht verfassungswidrig. Erstens bedurfte das Ergebnis des Volksentscheides einer Bestätigung durch die Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages – eine Mehrheit, die es nie gegeben hat. Zweitens gestattete der vierte Absatz des Artikels 29 GG (in der Fassung 1969), auf den sich die Bundesregierung letztendlich stützte, eine Abweichung vom Volksentscheid, falls die im ersten Absatz festgelegten Ziele der Neugliederung (z. B. “wirtschaftliche Zweckmäßigkeit”, “kulturelle Zusammenhänge”) nicht realisiert werden können. Und so wurde einige Monate nach den Volksentscheiden ein Gesetz verabschiedet, das das Land Niedersachsen in seinen Grenzen von 1949 bestätigte. Damit war der Traum vieler EinwohnerInnen Oldenburgs und Schaumburg-Lippes von der alten Unabhängigkeit geplatzt.

Der Autor

Sagi Gal hat im Rahmen eines dreimonatigen Praktikums im Bremer Mehr Demokratie-Büro einen Aufsatz über die Volksbegehren zur Länderneugliederung verfasst. Der komplette Aufsatz wurde im Volksbegehrens-Bericht 2009 veröffentlicht.