Bremerhaven schrumpft, also wächst die Bremische Bürgerschaft: Auf diesen paradoxen Nenner lässt sich eine aktuelle Politikposse im Land Bremen bringen. Die Debatte tobt in den Medien, aber die Bürgerschaft hat im Schnelldurchlauf und ohne inhaltliche Aussprache beschlossen, die Zahl ihrer Sitze zu erhöhen.
Wir halten das für einen Fehler und wollten zu diesem Thema eine Online-Petition auf den Seiten der Bremischen Bürgerschaft starten. Doch der Petitionsausschuss der Bürgerschaft teilte uns mit, die Petition betreffe die „Veranlassung einer Gesetzesinitiative“. Deswegen sei sie an die Fraktionen weitergeleitet worden. Sie werde für den Ausschuss damit „als erledigt angesehen“. Wir konnten also nicht, wie geplant, öffentlich Unterstützerinnen und Unterstützer sammeln.
Das angestrebte Ziel: Wenn die Bevölkerung in Bremerhaven schrumpft, darf die Bremische Bürgerschaft nicht größer werden. Wir bitten Sie, uns mit Ihrer virtuellen Unterschrift zu unterstützen. Leider wird die Petition nicht unmittelbar veröffentlicht, so dass es zu einigen Tagen Verzögerung kommen wird. Wir werden diesen Text aktualisieren, soweit es Neues gibt.
Wir haben zwei Pressemitteilungen zu diesem Thema veröffentlicht, die sie da und dort finden. Und wir beantworten hier die wichtigsten Fragen zum Thema:
Was ist das Problem?
In Bremerhaven geht die Bevölkerung zurück. Damit sinkt auch die Zahl der Wahlberechtigten. Behielten die Städte Bremerhaven und Bremen so viele Landtags-Sitze in der Bremischen Bürgerschaft wie bisher, dann würden in Bremerhaven deutlich weniger Stimmen für einen Sitz reichen als dies in Bremen der Fall ist. Anders formuliert: Eine Stimme aus Bremerhaven hätte mehr Gewicht als eine aus Bremen. Damit wäre die sogenannte Gleichheit des Erfolgswerts der Stimmen verletzt. Es besteht Handlungsbedarf.
Welche Optionen gibt es?
Zwei. Entweder man nimmt Bremerhaven einen Sitz. Schließlich geht ja auch die repräsentierte Wählerschaft zurück. Das fordert Mehr Demokratie. Oder man gibt der Stadt Bremen mehr Sitze – dafür hat sich die Bürgerschaft entschieden.
Ist das nicht paradox?
In Bremerhaven schrumpft die Bevölkerung, deswegen wächst das Parlament. Gleich um drei Sitze, damit das Verhältnis entsprechend der Bevölkerungszahl wieder passt. Das ist in der Tat etwas paradox.
Aber hat die Bürgerschaft nicht einen demokratischen Beschluss für ihre Vergrößerung gefasst?
Ja, formal schon. Aber ihm ging keine ordentliche öffentliche Debatte voraus. Und im Parlament gab es nicht einmal den Hauch einer Debatte. Eine solche Änderung kurz vor der Sommerpause in erster und zweiter Lesung zu beschließen, ist aus unserer Sicht nicht angemessen. Immerhin verursacht die Vergrößerung des Parlaments jährliche Mehrkosten in Höhe von rund 420.000 Euro.
Was passiert, wenn die Bevölkerung in Bremerhaven noch weiter zurück geht?
Dann fängt das Spiel von vorne an. Um sicherzustellen, dass die Stimmen in Bremen und Bremerhaven den gleichen Wert haben, müsste die Bürgerschaft weiter wachsen, wenn man nicht bereit ist, Bremerhaven einen Sitz zu streichen. In wenigen Jahren könnte es sein, dass die Bürgerschaft um weitere zwei bis drei Sitze wächst.
Kann Bremerhaven überhaupt einen Sitz verschmerzen?
Wir finden schon. Die Bevölkerung in Bremerhaven wäre auch mit 14 Sitzen noch gut repräsentiert.
Warum streicht man Bremerhaven den Sitz nicht einfach?
Uns scheint, die besondere Stellung Bremerhavens macht es den Parteien schwer. Man traut sich offenbar nicht, ihnen einen Sitz zu streichen.
Wie haben sich die Parteien denn positioniert?
Die Regierungsfraktionen SPD, Grüne und Linke stimmten geschlossen für die Vergrößerung. CDU und FDP waren gespalten, AfD und Bürger in Wut dagegen.
Welche Sitzzahl im Parlament ist denn angemessen?
Die Anzahl von 83 Abgeordneten, die bis vor wenigen Jahren in Bremen galt, erschien uns angemessen. Das Argument, Parteien könnten bei nur noch 14 Sitzen für Bremerhaven dort trotz Überwinden der Fünf-Prozent-Hürde keine Abgeordnetenmandate erringen, ist nicht stichhaltig. Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Partei über die 5%-Hürde schafft, sie aber keinen Sitz bekommt, liegt knapp über null Prozent.
Aber ist das Parlament nicht jetzt schon viel zu groß?
Zunächst braucht ein Parlament eine Mindestanzahl an Abgeordneten, um arbeitsfähig zu sein. Deshalb wächst ein Parlament auch nicht einfach linear entsprechend der Bevölkerungszahl. In Bremen gilt die Besonderheit, dass bei der Wahl die Bremische Bürgerschaft (Landtag) zusammen mit der Stadtbürgerschaft (Stadtparlament) gewählt wird. Insofern lässt sich das Landesparlament in Bremen nicht einfach mit jedem anderen Landesparlament vergleichen. Hinzu kommt die Besonderheit, dass Bremen ein Zwei-Städte-Staat ist, Bremerhaven eben auch repräsentiert sein will. Aber unterm Strich lässt sich festhalten, dass es gute Gründe braucht, ein Parlament zu vergrößern.
Wie steht Bremen im Vergleich zu anderen Ländern da?
In Bremerhaven kommen 13 Abgeordnete auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. In den vergleichbaren Stadtstaaten Berlin und Hamburg sind es mit vier und sieben Abgeordneten deutlich weniger. Aber die Größe von 83 Abgeordneten war aus unserer Sicht dennoch angemessen.
Wie wird das Argument mit der natürlichen Hürde bewertet?
Das Argument mit dem natürlichen Quorum (rund 7 Prozent) ist in unseren Augen nicht stichhaltig. Tatsächlich liegt sie nur halb so hoch, bei rund 3,5 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Partei über die Fünf-Prozent-Hürde schafft, sie aber keinen Sitz bekommt, liegt knapp über 0. Denn bei der Verteilung der Sitze werden in Bremen die Stimmen der Parteien durch einen geeigneten Divisor (Stimmen pro Sitz) geteilt und dann aufgerundet. Nur im denkbar unwahrscheinlichen Fall, dass ca. ein Dutzend Parteien über fünf Prozent kommen, könnte es für die Partei mit den wenigsten Stimmen bedeuten, dass sie kein Mandat erhält. Derzeit sind sieben Parteien im Parlament. Wir sind also weit davon entfernt, dass es bald zwölf sein könnten.
Sie haben weitere Fragen? Dann schreiben Sie eine Mail an bremen. Sie sind willkommen! @mehr-demokratie.de