Nur ein Instrument für Minderheiten?

Der Bremische Staatsgerichtshof erklärt das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Bremen" für grundgesetzwidrig. Die Hürden in dem Entwurf seien zu niedrig, die Mitwirkung in Finanzfragen gefährde das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht. Das Urteil läßt offen, wo genau die Grenzen für die Bürgerbeteiligung gezogen werden müssen.

Erstmals behauptet ein Verfassungsgericht, daß das Grundgesetz der direkten Demokratie in den Ländern deutliche Grenzen setze. Das Urteil des Staatsgerichtshof zum Volksbegehren "Mehr Demokratie in Bremen" vom 14. Februar markiert damit eine neue Qualität in der juristischen Eindämmung der Bürgerbeteiligung. Es versucht, den politisch gewünschten Schranken für die direkte Demokratie einen unabänderlichen "Ewigkeitscharakter" zuzusprechen.

Dabei sagt das Grundgesetz unmittelbar gar nichts über Volksentscheide. Es bedarf schon einer kruden Mischung aus juristischer Kaffeesatzleserei im Grundgesetz, Idealisierung des Parlaments, eklatanter Fehleinschätzungen des Instruments Volksgesetzgebung und einer Ignoranz gegenüber der direktdemokratischen Praxis, um zu einem derartigen Urteil zu gelangen. Es ist zu hoffen, daß sich diese bürgerfeindliche Rechtsprechung nicht auch in anderen Bundesländern durchsetzt.

Idealisierung des Parlaments, Fehleinschätzung der Volksrechte

Das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Bremen" war im Sommer 1998 von 7.500 BürgerInnen beantragt worden. Zahlreiche Verbände und Prominente unterstützten unsere Initiative. Unser Gesetzentwurf sah eine umfassende Reform der Landesverfassung vor, mit der die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide deutlich gesenkt werden sollten.

Der von der großen Koalition aus SPD und CDU geführte Senat stoppte den Antrag am 8. September 1998 und rief den Staatsgerichtshof an. Nach eineinhalb Jahren juristischer Auseinandersetzung erklärte der Staatsgerichtshof unseren Gesetzentwurf für unzulässig - allerdings bestätigte er die Landesregierung nicht in allen Punkten. Vor allem die implizite Auffassung des Senats, nur die derzeit geltenden, vollends prohibitiven Hürden für die Volksgesetzgebung seien rechtlich zulässig, wurde von den Richtern nicht bestätigt. Das knappe, 30seitige Urteil wird im folgenden in seinen wesentlichen Begründungsschritten nachvollzogen und einer Kritik unterworfen.

Die repräsentative Demokratie als "Hort des Gemeinwohls"

1. Idealisierung des Parlaments.

Das Urteil entwickelt zunächst Maßstäbe für die Beurteilung demokratischer Entscheidungen. Aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes (Art. 28,1) leiten die sieben Richter die Ausrichtung aller politischen Resultate am Gemeinwohl ab. Wahlen sowie eine freie Presse, der Parteientwettbewerb und die politischen Freiheitsrechte sichern die demokratische Legitimation der Volksvertretungen. Innerhalb des Parlaments seien es Aushandlungsprozesse und vor allem das freie Mandat, das für die Integration unterschiedlicher Interessen in gemeinwohlorientierte Gesetze sorge. Ausdrücklich betonen die Richter, daß "die Gemeinwohlqualität der parlamentarisch verabschiedeten Gesetze nicht entscheidend davon [abhängt], daß eine möglichst große Zahl der Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht".

Bei diesem Maßstab reibt man sich doch verwundert die Augen. Kein Wort verlieren die Richter darüber, was denn das Gemeinwohl sein soll und wie es sich bestimmen läßt. Daß das von den Richtern als zentral angesehene freie Mandat praktisch nicht existiert, wird ebenso ignoriert wie die Tatsache, daß es immer wieder zu Parlamentsentscheidungen kommt, die eindeutig die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung verletzen. Schließlich wird eher beiläufig festgestellt, daß die Wahlbeteiligung nur eine untergeordnete Rolle spiele. Legitimiert sich das Parlament etwa aus sich selbst heraus? Schon der Ausgangspunkt der Urteilsbegründung fällt bei näherer Betrachtung wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Mißbrauch der Parteienmacht wird verharmlost

Da hilft es kaum, daß der Staatsgerichtshof auch einige Gefahren der repräsentativen Demokratie wie Bürgerferne, "Erstarrung politischen Betriebs", undurchsichtige Entscheidungsmechanismen, Einfluß von Interessengruppen oder mangelnde Berücksichtigung von Minderheiten aufzählt. Das Gericht versäumt es, diesen "Gefahren“ ein der Praxis entsprechendes Gewicht einzuräumen. Was die sieben Richter hier betreiben, ist nichts anderes als ein unkritische Idealisierung des Parlaments. Der Parteispendenskandal läßt grüßen.

2. Verkennung der Funktionen der Volksgesetzgebung.

Im nächsten Schritt bestimmt das Gericht dann die Funktionen der direkten Demokratie. Sie diene im wesentlichen dazu, die "Defizite der parlamentarischen Gesetzgebung zu mildern oder auszugleichen". Ihre Funktionen liegen in der Artikulation vernachlässigter Probleme, Werte und Interessen und dem Aufgreifen umstrittener parlamentarischer Entscheidungen. "Hieraus folgt, daß das Volksgesetzgebungsverfahren insbesondere ein Instrument von Minderheiten ist."

Wieder kommt der Leser aus dem Staunen nicht heraus. Wieso folgt aus den genannten Funktionen, daß die direkte Demokratie "insbesondere" ein Instrument von Minderheiten ist? Eine Begründung dieser "Folgerung" bleiben die Richter schuldig.

Nur Mehrheiten können Volksentscheide gewinnen

Gerade weil die Parlamente immer wieder die Eigeninteressen der politischen Klasse und die Anliegen einflußreicher Interessengruppen (das sind zumeist Minderheiten!) verfolgen, repräsentieren ihre Entscheidungen eben nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Gerade in solchen Fällen wird jedoch dann - wo möglich - aus der Bevölkerung zum Instrument des Volksbegehrens gegriffen. 

Natürlich wird die Initiative auch in der direkten Demokratie zunächst von engagierten Minderheiten ergriffen. Das ist auch gar nicht anders möglich und entspricht durchaus den Abläufen in der repräsentativen Demokratie! Aber diese "engagierten Minderheiten" werden den Volksentscheid nur dann erfolgreich gestalten können, wenn ihr Anliegen mehrheitsfähig ist. Denn darauf kommt es ja letztlich an - auf die Mehrheit im Volksentscheid.

Minderheiten können auf dem Weg der Volksgesetzgebung ihre Anliegen lediglich artikulieren - und dies ist eine wichtige Funktion der direkten Demokratie. Durchsetzen können sich aber nur Mehrheiten.

Weiterhin ignorieren die Richter die Initiativfunktion von Volksbegehren. Die direkte Demokratie ist weit mehr als ein "Reparaturbetrieb" für die gröbsten Mängel des Parlaments. Sie bietet vielmehr eine hervorragende Möglichkeit, neue Ideen, Lösungsansätze und Problemwahrnehmungen in die Politik einzuspeisen. Hier hinkt der Volksentscheid nicht den Verfehlungen der Repräsentanten hinterher, sondern wird zu einem eigenständigen Gestaltungs- und Problemlösungsinstrument. Die vielfältige Praxis in dieser Richtung - nehmen wir als Beispiel die erfolgreiche Friedens- und Umweltbewegung in der Schweiz - wird im Bremer Urteil nicht wahrgenommen.

3. Angemessene Zulassungsquoren sichern "Allgemeinverbindlichkeit".

Aus dem bisher Gesagten folgern die Richter, daß ein "Spannungsverhältnis" bestehe zwischen "der häufig vorhandenen Partikularität der von Initiatoren der Volksgesetzgebung verfolgten Interessen einerseits und dem Anspruch des Gesetzes auf Allgemeinverbindlichkeit andererseits". Ein angemessenes Zulassungsquorum beim Volksbegehren sei die Hürde, welche die demokratische Qualifzierung eines Vorschlags sichere und das Spannungsverhältnis auflöse. Es schütze die zentrale Stellung des Parlaments vor allzu leichten Zugriffen. Wird es erreicht, so habe es eine Signalfunktion für das Parlament.

Läßt das Urteil trotzdem Verzicht auf Zustimmungsquoren zu?

Ein zu niedriges Einleitungsquorum schwäche hingegen auf unzulässige Weise die repräsentative Demokratie. Allerdings "dürfen Zulassungsquoren nicht so hoch sein, daß sie einen Entmutigungseffekt haben und die Inanspruchnahme dieses Instruments demokratischer Partizipation verhindern".

An dieser Stelle deuten die Richter eine Lösung an, die durchaus im Sinne von Mehr Demokratie liegt. Denn wenn allein über das Zulassungsquorum die grundgesetzlichen Voraussetzungen des Demokratieprinzips gewahrt werden können, heißt das im Umkehrschluß, daß das Gericht Zustimmungsquoren beim Volksentscheid für nicht unbedingt erforderlich hält. Letztlich machen die Richter zu dieser Frage jedoch keine abschließende Aussage.

Gewicht der Einwände gegen Abstimmungsquoren anerkannt

4. Zu niedrige Hürden für Verfassungsänderungen.

Der Gesetzentwurf von Mehr Demokratie sieht für Verfassungsänderungen folgende Erleichterungen gegenüber der geltenden Rechtlslage vor:

Das Unterschriftenquorum von 20 Prozent der Wahlberechtigten beim Volksbegehren wird auf 5 Prozent der Beteiligung bei der letzten Bürgerschafts- wahl gesenkt. Statt bisher ca. 100.000 wären in Zukunft nur noch etwa 30.000 Unterschriften erforderlich gewesen.

Das geltende Zustimmungsquorum von 50 Prozent der Stimmberechtigten wird ersatzlos gestrichen.

Die Gesamtheit dieser Erleichterungen gefährde, so das Gericht, den "Vorrang" der Verfassung vor dem einfachen Gesetz, der vom Grundgesetz geforderte "Bestandschutz" (Art. 28, Abs. 1) sei nicht gewahrt. Auch die Tatsache, daß wir für verfassungsändernde Volksbegehren ein doppelt so hohes Unterschriftenquorum vorsehen wie für sonstige Begehren, reiche als Erschwernisstufung nicht aus.

Auch hier läßt das Gericht offen, ob ein Quroum beim Volksentscheid zwingend erforderlich ist. Die Richter betonen, daß sie "nicht das Gewicht der ... Bedenken gegen Teilnahme oder Zustimmungsquoren" verkennen ­eine abschließende Klärung dieser Frage sei jedoch nicht erforderlich, weil die Kombination eines niedrigen Unterstützerquorums mit dem Fehlen von Abstimmungsquoren "in einer Weise die Verfassung zur Disposition von Minderheiten stellt, die sich mit dem demokratischen Prinzip nicht mehr vereinbaren läßt".

Auch Vorschlag für einfachgesetzliche Entscheide kassiert

5. Zu niedrige Hürden für einfache Gesetze.

Zu unserer aller Überraschung hat das Gericht aber nicht nur unsere Regelung für Verfassungsänderungen, sondern auch den einfachgesetzlichen Weg für grundgesetzwidrig erklärt. Hier lautete der Vorschlag von "Mehr Demokratie in Bremen":

Die Unterschriftenhürde soll von bisher zehn Prozent der Stimmberechtigten auf fünf Prozent der Beteiligung bei der letzten Wahl gesenkt werden. Das macht dann ca. 15.000 statt bisher 50.000 Unterschriften. Die Sammelfrist wird von drei auf sechs Monate verlängert.

Das Zustimmungsquorum von einem Viertel der Wahlberechtigten beim Volksentscheid entfällt.

Auch hier führe die Kombination der Hürden zu einem Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Es bestehe die Gefahr, daß "das Volksgesetzgebungsverfahren in eine Art verfassungsrechtliches Sondergut mehr oder minder randständiger Minderheiten“ verwandelt werde. Permanente Minderheiten-Entscheidungen könnten zur Ablehnung der direkten Demokratie führen, die Volksgesetzgebung würde von den Parlamenten nicht mehr ernst genommen und schließlich als ernsthaftes Instrument gefährdet.

6. Bedrohungsszenario "Minderheitenherrschaft".

In der Ablehnung niedriger Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide entfaltet der Bremische Staatsgerichtshof ein absurdes Bedrohungsszenario. "Aktive Minderheiten" könnten die Demokratie zu einem beliebigen Spielball ihrer Interessen machen. Wie das? Hat man jemals gehört, daß die Schweiz oder Kalifornien, wo die Hürden für die Volksgesetzgebung noch niedriger sind als von uns vorgeschlagen, zur Spielwiese für Minderheiten verkommen sind?

Nein, mitnichten. Die Volksgesetzgebung ist dort nicht "gefährdet", sondern wird von Bürgern und Politikern gleichermaßen geschätzt - eben weil dort die Hürden niedrig sind und das Verfahren deshalb überhaupt erst funktioniert.

Die Bremer Richter stellten sich taub gegenüber der empirischen Tatsache, daß das Mehrheitsprinzip im Volksentscheid die entscheidende und nur schwer zu nehmende Hürde ist. Sie unterstellen, Volksentscheide seien von aktiven Minderheiten leicht zu gewinnen. Das ist schlechte Theorie - mit der Praxis hat das nichts zu tun.

Nehmen wir das Beispiel Schweiz: Nur jedes zehnte Volksbegehren ist an der Urne erfolgreich! "Minderheiten" haben keine Chance, weil die Bürger und die Sachgegner keine Schlafmützen sind, sondern erfolgreich dagegenhalten. Man nennt das auch "politischen Wettbewerb". Und der wird bekanntlich gerade durch den Verzicht auf undemokratische Quoren gefördert.

Schwerster Schlag ist das Verbot finanzwirksamer Volksentscheide

7. Verbot haushaltswirksamer Volksentscheide.

Die weitgehendste Eintschränkung der Volksrechte durch den Staatsgerichtshof liegt jedoch in dem Verbot einer

Öffnung der direkten Demokratie für budgetrelevante Gesetze. Unser Gesetzentwurf wollte lediglich den "Haushaltsplan im ganzen" vom Volksentscheid ausschließen - ansonsten sollten die Bürger in gleicher Weise über die öffentlichen Mittel verfügen können wie der Landtag.

Darin erblickt das Urteil nun einen weiteren Verstoß gegen das Grundgesetz. Artikel 109, Abs. 3 verpflichtet die Länder auf die Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Ob diese Aufgabe nur vom Parlament oder auch vom Volksgesetzgeber wahrgenommen werden soll, sagt das Grundgesetz nicht. Der Staatsgerichtshof behauptet jedoch, diese Aufgabe könne nur der Landtag wahrnehmen.

Auch hier schwingt wieder eine gehörige Portion Mißtrauen gegenüber dem Volk mit. Und auch hier ignorieren die Richter die Erfahrungen, die insgesamt für einen verantwortlichen Umgang der BürgerInnen mit den Staatsfinanzen sprechen.

Sollte sich diese Interpretation des Art. 109 GG durchsetzen, so wäre trotzdem noch eine Öffnung in dieser Frage denkbar - nämlich durch eine entsprechende Änderung dieses Grundgesetz-Artikels. Man könnte also auf Bundesebene die Voraussetzungen schaffen, um die Spielräume für die direkte Demokratie in den Ländern in diesem entscheidenden Punkt zu erweitern.

Fazit: Das Urteil ist ein politischer Skandal, ein erneutes, ungeheuerliches Mißtrauensvotum gegen das Volk. Besonders enttäuscht hat uns die Tatsache, daß selbst progressive Richter wie Ulrich K. Preuß und Alfred Rinken diesem gegenüber der direktdemokratischen Realität nahezu blinden Schriftstück beigepflichtet haben. Es mag andererseits sein, daß die Beteiligung dieser beiden Professoren sogar Schlimmeres verhindert hat.

Immerhin hat das Gericht ja zu verstehen gegeben, daß die derzeitigen Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide in Bremen nicht sakrosant sind. Selbst die Senatsvertreter mußten vor Gericht zugeben, daß das Verfahren bisher prohibitiv wirkt. Reformspielraum gibt es also auf jeden Fall - und den wollen wir in Zukunft nutzen.